Ein ausführlicher Artikel zur Psychodynamischen Einzeltherapie

Die Psychodynamische Einzeltherapie – ein Stück Therapiegeschichte der DDR

In der Zeit vor dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes im Jahre 1999 musste ich, wie viele andere Psychologen, die als Psychotherapeuten angestellt oder in freier Praxis arbeiteten, umfangreiche Weiterbildungen vornehmen, wenn ich über den 01.01.1999 hinaus rechtmäßig die Berufsbezeichnung ‚Psychotherapeut‘ weiterhin führen und so arbeiten wollte.
Und das wollte ich auf jeden Fall!
Bei der Suche nach anerkannten Ausbildungsinstituten verschlug es mich dabei u. a. in die ehemalige DDR, und ich komme noch immer nicht aus dem Staunen heraus, ein welch haltgebendes und gleichzeitig emotional wie mental tiefgehendes Psychotherapieverfahren – nämlich die Psychodynamische Einzeltherapie – dort von dem Psychiater und Psychoanalytiker Dr. Hans-Joachim Maaz entwickelt und gelehrt wurde.

Die Psychodynamische Einzeltherapie ist als eine analytisch orientierte Kurzzeittherapie zu verstehen, die zu einer Zeit in der DDR entwickelt wurde, als ein Bekenntnis zur Psychoanalyse als politisch umstürzlerische Haltung gewertet wurde und die Auflösung der inneren Konfliktdynamik eines Patienten insofern eine zerstörerische Handlung war. Während die politischen Machthaber, denen alles Individuelle verdächtig war, daran interessiert waren zu vermeiden, zu verdrängen und Konflikte zu vertuschen, engagierten sich mehrere Psychotherapeuten – quasi als Gegenentwurf zu den verordneten und starren Wertvorstellungen – für eine gesunde, lebendige und unabhängig machende Therapiepraxis, die den Patienten zu Selbsthilfe und aktivem Handeln befähigte.

Wenn Sie eine Psychodynamische Einzeltherapie beginnen wollen, sollten Sie über eine gewisse „Ich-Stärke“ verfügen und weniger alle Ihre Hoffnungen nur in die „Heilkraft“ des Therapeuten setzen oder nur eine schnelle Symptombekämpfung wünschen, sondern eher bereit sein, sich mitzuteilen, sich selbst zu erforschen, sich zu befragen, neue Einsichten über sich zu gewinnen und Gefühle wieder zuzulassen, während der Therapeut vor allem zuhört, sich in Ihre Mitteilungen einfühlt und Ihre Selbsterforschung unterstützt. In diesem Zusammenhang wird Ihnen also bereits im Vorfeld der eigentlichen Therapie deutlich werden, dass es sich um einen anstrengenden und oft schmerzlichen Erkenntnis- und Veränderungsprozess handelt, zu dem es Ihrer Zustimmung bedarf. Der Therapeut könnte also sinngemäß sagen und fragen: „Sie erhalten hier einen Raum, in dem Sie neben dem, was in Ihnen gut und heil ist, vor allem auch das Verletzte, Unsichere, Leere, Ungeliebte, Einsame und Unechte in sich erforschen. – Wollen Sie das?“

Damit eine so tiefgreifende Psychotherapie den nötigen Halt hat, müssen Rahmenbedingungen erarbeitet werden, in denen das Feld für die dann folgende Therapie bereitet wird. Fünf Abschnitte werden dabei unterschieden, und ich möchte sie im Folgenden aus methodischer Sicht kurz beschreiben.

1. Das Herstellen des Kontaktes zwischen Therapeut und Patient

Für den Therapeuten ist es gut zu erfahren, wie der erste Kontakt zustande gekommen ist, was das Anliegen und die Erwartungen des Patienten sind und welche Erklärungen dieser für seine Beschwerden oder seine Erkrankung hat. Der Therapeut sollte offen sein, zuhören, sich selbst gut wahrnehmen und auf seine Gefühle achten; er muss herausfinden, ob und wie er mit seiner therapeutischen Kompetenz dem Patienten ein hilfreicher Partner werden kann und will.
Der Patient braucht ein Gefühl, angenommen und verstanden zu werden, z. B. durch Zeit, Vertrauen, Ermutigung und Konfrontation, um bereit zu sein, die wirklichen Ursachen und Zusammenhänge für seine Beschwerden zu erforschen.

2. Das Erfassen der lebensgeschichtlich wesentlichen Daten und Zusammenhänge

Der eher gering strukturierte Anfang lässt dem Patienten Raum und Zeit sich mitzuteilen, und der Therapeut kann aus der Art und Weise, wie er das tut, schon wesentliche Hinweise für die Frage erhalten: Warum hat gerade dieser Patient in dieser Lebenssituation diese Symptome entwickelt?
Auch wird der Therapeut bemüht sein, wesentliche lebensgeschichtliche Faktoren zu erfahren, also wie sich der Patient entwickelt hat, welche Bedingungen er dabei hatte und was seine besonderen Fähigkeiten und Schwierigkeiten sind. Die Lebensgeschichte sollte nicht nach Punkten abgefragt werden, da man auf Fragen bekanntlich nur Antworten bekommt und nichts weiter. Wenn sich der Therapeut mehr von den Angeboten des Patienten leiten lässt, kann er besser erfahren, welche Bereiche er betont, welche er weglässt und welchen er ausweicht. So er- fährt er auch etwas über den Kommunikationsstil und die Beziehungsgestaltung des Patienten.
Als aufschlussreich für beide Seiten hat sich in meiner Praxis ein vom Patienten schriftlich angefertigter und in den folgenden Sitzungen besprochener „persönlicher Lebenslauf“ erwiesen.

3. Gibt es psychische Ursachen für die Symptome? – Das Ringen um die Psychogenese

Was ist die Ursache für die Erkrankung? Ist es der schwierige Ehepartner, das soziale Umfeld, ein Unfall, Stress, ein bestimmtes Körperorgan?
Dass die geklagten Beschwerden seelische Hintergründe haben, die ihre Wurzeln in der Lebensgeschichte haben und dass die so gewonnenen Einstellungen, Bewertungen und Wahrnehmungen häufig verzerrt oder einseitig sein können – was für die Gesundheit negative Folgen haben kann – , wird vom Patienten oft als Unsicherheit, Beschämung oder Angst erfahren. Es ist fast paradox, dass der Patient seine eigene Fehlentwicklung akzeptieren können soll, obwohl er auf die Frage nach seinen krankheitsverursachenden Problemen keine vollständige Antwort geben kann, da wesentliche psychische Vorgänge unbewusst verlaufen. Mit Recht hat er also hinreichende Gründe für Widerstand und Abwehr gegen das vereinbarte Aufdecken und Herausfinden unbewusster seelischer Vorgänge, und mit Recht kann man deshalb sagen, dass Therapeut und Patient um die wirklichen Zusammenhänge der Beschwerden – also um ihre Psychogenese – ringen.

4. Das Herausarbeiten der Hauptproblematik  – Das Fokussieren

Hat der Patient die Beschwerden mitgeteilt, ist die Lebensgeschichte erforscht und der symptomauslösende Zusammenhang benannt, wird jetzt – benutzen wir das Bild eines Waldes – die Lichtung (das Hauptproblem, der Fokus) ausgeleuchtet, damit Therapeut und Patient sich nicht im Unterholz des Waldes verirren und mal dies, mal das bearbeiten.
Der innerseelische Konflikt soll letztendlich in einem Fokalsatz genau erfasst und formuliert werden und mit dem Wort „weil“ eine einleuchtende – meistens biografisch verankerte – Begründung erhalten. Dazu 3 Beispiele:

Ich fliehe immer wieder vor entstehender Nähe, weil ich sonst fürchte, meine Freiheit und Eigenständigkeit zu verlieren.

Ich entwerte ständig mich und andere, weil ich in meiner Kindheit durch Angst vergiftete Liebe und maßlose Enttäuschung und Ablehnung erfahren habe.

Ich fühle mich existentiell bedroht, weil ich in meiner Familie von Anfang an missachtet, niedergemacht oder im Stich gelassen worden bin.

Dieser Satz wird vom Therapeuten und Patienten gemeinsam erarbeitet und anschließend geprüft, ob er Gültigkeit hat für

a) die (frühe) Kindheit und Jugend,
b) die aktuellen Lebenssituationen und
c) die aktuelle Beziehungserfahrung mit dem Therapeuten

Mit voranschreitender Vertrautheit wird der Fokus im Verlaufe der Gespräche immer genauer – d. h. auf den zentralen inneren Konflikt bezo-
gen – formuliert und dient so dazu, immer mehr an die früh entstandene Problematik heranzukommen.

5. Die Therapievereinbarung

Da Psychotherapie nicht verordnet werden kann und sollte, muss zwischen Therapeut und Patient über mehrere Punkte Einigung erzielt werden. Die Therapievereinbarung, der letzte Teil der Rahmenbedingungen, ist der – im wahrsten Sinne des Wortes – notwendige Halt für eine auf einen zentralen inneren Konflikt bezogene Psychotherapie.
Hier wird in der Regel der Therapeut Informationen geben und Vorschläge machen, und der Patient wird gebeten, sich darüber mitzuteilen, wie er die Angebote versteht und ob er sich darauf einlassen will.
Als formale Kriterien sind z. B. die voraussichtliche Dauer der Therapie, die Dauer einer Therapiesitzung, die Häufigkeit der Therapiesitzungen sowie Absprachen über Ort, Zeit und Raum zu vereinbaren. Zu den inhaltlichen Kriterien zählen z. B. die Fragen an den Patienten, welche konkreten Therapieziele er hat und welche Vorstellungen er davon hat, diese Ziele zu erreichen, und es ist zu klären und zu vereinbaren, welche Aufgaben der Patient hat (z. B. Offenheit, Wahrhaftigkeit, Selbsterforschung, Fühlen) und was der Therapeut zu tun hat (z. B. Zuhören, Einfühlen, Nachfragen, Konfrontieren, Deuten). So sollte klar werden, dass der Therapeut keine Themen vorgibt und keinen Rat erteilt, sondern daran interessiert ist, den Patienten darin zu unterstützen, für sich das Beste/das Gesündeste zu finden (Hilfe zur Selbsthilfe).

Erst wenn in den hier skizzierten fünf Schritten ein gutes Arbeitsbündnis gefunden und vereinbart ist und wenn zwischen Therapeut und Patient ein Gefühl entstanden ist, vertrauensvoll miteinander arbeiten zu können, wenn also Therapeut und Patient zu einer brauchbaren Therapievereinbarung gelangt sind, an der der Patient aktiv mitgearbeitet, sie verstanden und akzeptiert hat, kann die eigentliche Psychotherapie beginnen und nur dann auch gelingen.

Als Arbeitsinhalt für die Psychotherapie wird der für die aktuellen Symptome zentrale innere Konflikt des Patienten – formuliert in einem Fokalsatz – festgelegt. Mit der Therapievereinbarung hat der Patient seine Bereitschaft erklärt, zum Thema des fokussierten Konfliktes möglichst unzensiert zu sprechen, das Konfliktfeld selbst zu ergründen und dabei auch auf seine Emotionen zu achten.
Dieses vereinbarte Von-Sich-Sprechen und Das-Konfliktfeld-Selbst-Erforschen werden zwangsläufig beim Patienten Widerstände auslösen, weil damit auch unangenehme Erinnerungen und Gefühle verbunden sind, gegen deren Auftauchen der Patient sich sträubt. Dem Wieder-Bewusst-Werden dieser Gefühle setzt der Patient Widerstand entgegen, weil er fürchtet, erneut – genau wie früher – Beschuldigung, Ängstigung, Beschämung oder Kränkung zu erleben.
Äußerlich kann sich der Widerstand gegen die in der Therapievereinbarung festgelegten Absprachen richten, indem der Patient z. B. die Initiative und ausschließliche Verantwortung für den Fortgang der Therapie dem Therapeuten zuschiebt, auf Inhalte außerhalb des vereinbarten Fokus ausweicht oder unpünktlich zu den Sitzungen erscheint.
Es ist von Vorteil für den Behandlungsprozess, wenn der Patient möglichst frühzeitig versteht, dass er bei allem Leidensdruck, bei ehrlichem Behandlungswunsch und bei aller Kooperationsbereitschaft dem Behandlungsprozess dennoch Kräfte entgegensetzen muss. Der Widerstand ist also keineswegs eine lästige Erscheinung, die überwunden werden muss, sondern ist ein nützliches Moment für den Therapieprozess, das eine neugierig suchende, verständnisvolle und tolerante Haltung des Therapeuten verdient. Durch eine solche Vorgehensweise wird auch die Angst des Patienten abgebaut, durch die Existenz und das Auftauchen seiner Widerstände die Achtung des Therapeuten zu verlieren oder die therapeutische Beziehung zu gefährden.
In der Regel wird dem Patienten so deutlich, dass er sich – immer wenn im Gespräch ein Widerstand auftaucht – in der Beziehung zum Therapeuten an einem für ihn wichtigen Punkt befindet. Im Grunde spürt er also, dass ihm sein Widerstand den Weg weist, um ängstigende Gefühle und Inhalte wieder wahrzunehmen und in einer toleranten und ehrlichen Beziehung auch straffrei mitzuteilen. Solchen Erfahrungen kann eine heilende Wirkung zugesprochen werden. Dabei ist der erlebte/gefühlte (Beziehungs-) Konflikt sicher heilsamer als der nur verstandene, vorausgesetzt, dass der Therapeut „gesünder“ auf die Angebote des Patienten reagiert, als dies früher die Eltern taten, und dadurch dem Patienten eine für ihn bedeutungsvolle Neuerfahrung möglich macht.

Mit dem eben Dargestellten hoffe ich deutlich gemacht und dem Missverständnis vorgebeugt zu haben, dass der Patient sich in der Therapie durch das Heiler-Werden immer gut fühlt. Es ist vielmehr eher so, dass gerade die guten Neuerfahrungen die früheren schlechten Beziehungen erst richtig bewusst werden lassen, was in aller Regel zunächst zu Schmerz, Trauer, Enttäuschung und Wut führt.
Der Therapeut achtet besonders darauf und lässt für den Patient erlebbar werden, wie der in dem Fokalsatz formulierte innere Hauptkonflikt des Patienten in der konkreten Therapeut-Patient-Beziehung erscheint. Damit findet eine ausgesprochene Betonung des Hier und Jetzt gegenüber dem Dort und Damals statt. Der Patient gewinnt also ein Verständnis für seinen Widerstand und seinen zentralen inneren Konflikt, indem in jeder Stunde das unmittelbare, im Hier und Jetzt entwickelte Beziehungsgeschehen aufgegriffen und auf den formulierten Fokus bezogen wird.
Dabei ist es für die therapeutische Beziehungsgestaltung förderlich, wenn der Therapeut sich als lebendige, reale Person aus ‚Fleisch und Blut‘ mit individuellen Eigenheiten zu erkennen gibt. Die Bearbeitung der Widerstände und des Fokus erhält so eine vom Patienten und Therapeuten geprägte einmalige Färbung, wie der gesamte Therapieprozess eine einmalige Begegnung zwischen Patient und Therapeut darstellt.

Wenn Sie einen tieferen Einblick in die klinische Betrachtungsweise, aus der heraus die Psychodynamische Einzeltherapie entstanden ist, bekommen wollen, empfehle ich Ihnen folgende Bücher von Hans-Joachim Maaz:

  • Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit.
  • Die Beziehungsfalle. Spielregeln für eine neue Beziehungskultur.
  • Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR.
  • Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm.
  • Hilfe! Psychotherapie. Wie sie funktioniert und was sie leistet.
  • Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft.

Weitere Informationen über:

Dipl.-Psych. Jörg Claussen
Psychologischer Psychotherapeut
Weberstr. 7a
79098 Freiburg
Tel.: 0761/68 198 581